Inhalt

Vorwort: E.Dieter Fränzel
Einleitung: Wolfram Knauer (Jazz-Institut Darmstadt)

In Memoriam Peter Kowald: Manfred Nettekoven

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Hot und Swing in Tanzlokalen 

Die 30er Jahre sind die Zeit der Swing-Orchester, die Metropole ist Berlin. In Wuppertal werden Hot-Jazz und Swing in Tanzcafés und Variétés gespielt. Die Schellack-Platte ist noch eine Rarität, da funkt bereits der Sender Elberfeld Jazz-Programme in den Äther. Bernard Etté und seine Jazz-Symphoniker, eines der besten europäischen Jazz-Orchester, gastieren 1930 im Thalia-Theater, und das erste schwarze Hot-Jazz-Orchester, Sam Wooding and the Chocolate Kiddies, begeistert die Wuppertaler mit seiner imposanten Show.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wird der Jazz zur „entarteten Musik“ erklärt, ab 1935 werden Jazz-Sendungen im Rundfunk verboten, jüdische Musiker diskriminiert und verfolgt. Mit Beginn des Krieges 1939 wird das Abhören ausländischer Sender unter Strafe gestellt.
Der Pianist und Jazzforscher Günter Boas hat die aufregenden 30er Jahre in Berlin erlebt und viele Musiker kennen gelernt. Für seine Liebe zum Jazz musste er unter der NS-Herrschaft als Zwangsarbeiter in einem Konzentrationslager büßen.
Der Banjospieler Rudi Anhang, der wie alle jüdischen Musiker von der Reichsmusikkammer mit einem Berufsverbot belegt wurde, konnte sich der Verfolgung durch NS-Schergen entziehen und floh 1936 in die Emigration. Seine Karriere begann 1925 in Wuppertal, wo auch eine Liebesgeschichte ihren Anfang nahm.

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Ernst Höllerhagen Story

Ein fast vergessenes Kapitel europäischer Jazz-Geschichte ist das Leben Ernst Höllerhagens. Ein Leben, swingend zwischen musikalischen Höhenflügen und tiefen Abstürzen im Privaten. Nach Tingeltangeljahren als Kinomusiker beginnt der 1912 in Barmen geborene Klarinettist und Saxophonist seine musikalische Karriere als 18-Jähriger in Hamburg; nur zwei Jahre später wird er zum besten Saxophonisten Deutschlands gekürt. Während der 30er Jahre spielt er bei den besten deutschen Unterhaltungs-Orchestern in den sagenumwobenen Amüsiertempeln des „Swinging Ballroom Berlin“. Als der Jazz von den Nazis zur entarteten Musik erklärt wird, verlässt Höllerhagen Deutschland und geht in die Schweiz. Dort trifft er Hazy Osterwald, dessen Showband er bis zu seinem Tod angehört.
Bei einem Konzert in Schweden ist selbst der „King of Swing“ Benny Goodman von dem virtuosem Klarinetten-Spiel Höllerhagens beeindruckt. 1949 tritt Ernst Höllerhagen mit Hazy Osterwald auf dem ersten internationalen Jazz-Festival in Paris auf, wo er in einer Bar auf „Bird“ trifft, den großen stilbildenden Saxophonisten des Bebop: Charlie Parker.
Das war nicht die einzige Begegnung mit einer Legende: Der von Kritikern als „europäischer Benny Goodman“ apostrophierte Höllerhagen jammte mit Jazz-Pionieren wie Sam Wooding, und machte Plattenaufnahmen mit Coleman Hawkins, dem Vater des modernen Jazz-Saxophonspiels.

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Nachkriegsjahre - der Jazz lebt auf  

Der Jazz gibt ein Gefühl von Freiheit, die Jugend lebt auf. Wolfgang Sauer, in Barmen aufgewachsen, gehört zu den Jazzern der ersten Stunde. In den Clubs der amerikanischen und englischen Besatzer verdient sich der Student als Jazz-Pianist und Sänger sein Taschengeld. In Wuppertal schließt er sich der No Name Band an, die 1949 auf der Bühne des Neuen Rathauses begeistert aufgenommen wird. Der junge Journalist Johannes Rau berichtet in der Lokalzeitung von „drei Stunden Ekstase”. 1953 wird Wolfgang Sauer zu Deutschlands Jazz-Sänger Nr.1 gekürt.
Die US-amerikanischen Jazz-Stars kommen über den großen Teich. Louis Armstrong begeistert mit seinen Allstars die Wuppertaler, das Stan Kenton Orchester beeindruckt im Thalia-Theater mit seinem „Progressive Jazz“. Das Thalia ist auch Schauplatz eines Wettstreits „Schwarz gegen Weiß”: Die No Name Band tritt gegen die George Maycock Combo aus Jamaika an - Schwarz gewinnt!

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Die Zeit der Clubs

In den 50er Jahren gedeiht der Jazz im Untergrund: Keller, Katakomben und ausgediente Fabriken werden eigenhändig ausgestaltet, Jazz-Clubs entstehen, der Amateur-Jazz wird zur neuen Hausmusik. Ein subkulturelles Milieu bildet sich heraus. Am traditionellen Dixieland und dem damals progressiven Cool-Jazz scheiden sich die Geister.

Viele US-amerikanische und englische Musiker gastierten in Wuppertal. Der Saxophonist Klaus Doldinger kommt oft aus Düsseldorf zum 1954 gegründeten „New Jazz Circle“ und trifft dort auf den Pianisten Jack van Poll. Beide werden Preisträger des Deutschen Amateur Jazz-Festivals. Die Liebhaber des traditionellen Jazz finden in einem ehemaligen Luftschutzbunker und in einer Holzbaracke, dem so genannten „Jazz-Studio“, ihr Domizil. Der Trompeter Lothar Schnell gründet die Blue Note Juniors und zieht mit der Band durch die Jazz-Lokale der westdeutschen Großstädte. Auch in Wuppertal etabliert sich ein nach Pariser Vorbild gestalteter Existenzialistenkeller mit dem Namen „bohème“, in dem jede Nacht Jazz live geboten wird.

Auch in der Provinz blüht das Jazzleben. Wie im Jazz-Club Dahlerau, wo sogar der berühmte Trompeter Chet Baker auftritt. Die Solinger Jazzclubs der 60er Jahre sind Anziehungspunkte für die ganze Region. In Remscheid hat die Nachwuchsförderung der Jazzmusiker eine lange Tradition.

Die Volkshochschule bietet Jazz-Kurse an, für Musikhörer und Liebhaber. Viele Jazzmusiker der jüngeren Generation sind akademisch geschult, haben an der Musikhochschule studiert: Aber kann man Jazz lernen?

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Die jungen Wilden

In der Aufbruchstimmung der 60er Jahre wird Wuppertal zum Zentrum der Jazz-Avantgarde. Protagonisten dieser Entwicklung sind der Saxophonist Peter Brötzmann, der Bassist Peter Kowald und der Gitarrist Hans Reichel. Während Radikalität und Expressivität des Ausdrucks damals heftige Reaktionen und Ablehnung auslösen, spricht man heute von der international beachteten „Wuppertaler Schule”.

Im Aktionszentrum „impuls“ findet die Subkultur eine Plattform für politische Aktionen und künstlerische Experimente. Der Pianist Bernd Köppen gründet dort mit anderen Improvisatoren seine erste Formation. Kowald und Brötzmann organisieren Workshops und Konzerte. So kommen Musiker aus aller Welt nach Wuppertal. Das Globe Unity Orchestra wird als erste europäische Free Jazz Bigband gegründet. Musiker aus Wuppertal pendeln zwischen Europa, Amerika und Japan und arbeiten mit Künstlern aus verschiedenen Kulturen zusammen.

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Ost West Kontakte

In der „Melodie“-Bar im Ost-Berliner Friedrichstadtpalast versammelt sich immer montags eine kleine, aber ständig wachsende Jazz-Gemeinde zur informellen Jam-Session. Im Herbst 1972 treffen Peter Brötzmann und Peter Kowald aus Westberlin kommend erstmals mit bedeutenden Musikern der DDR-Jazz-Szene zusammen. Im Gegenzug kommen Musiker aus der DDR nach Wuppertal - zu Konzerten und Workshops: Grenzüberschreitungen im wahrsten Sinne des Wortes.
Glasnost und Perestroika machen es möglich, dass in den 90er Jahren die Free-Jazzer Peter Kowald, Dietrich Rauschtenberger und Peter Brötzmann auf Einladung von Nikolai Dmitriev, dem Organisator der russischen Jazz-Szene, zu Gastspielen in die frühere Sowjetunion reisen.
Als Gast der Programmreihe „Ost West Kontakte“ kommt 1999 der Hornist Arkady Shilkloper aus Moskau ins „Nachtfoyer“ des Schauspielhauses. Seit 2003 lebt er nun in Wuppertal und nimmt Teil am Jazzleben.

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Grenzüberschreitungen

Die programmatischen „Grenzüberschreitungen” in den 80er Jahren, von Wuppertaler Musikern wie Peter Kowald und Peter Brötzmann initiiert, führen in der Zusammenarbeit mit TänzerInnen, bildenden KünstlerInnen, Theater- und Literaturschaffenden zu neuen künstlerischen Produktionen.
In der Reihe „Jazz im Museum” ist Pina Bausch die erste Tänzerin, die mit dem Improvisationsmusiker und Schlagzeuger Detlef Schönenberg zusammenarbeitet.
„360° – Spielraum für Ideen”, gegründet von einer Künstlergruppe der Luisenstraße, ist ein Experimentierfeld für alle künstlerischen Disziplinen. Peter Brötzmann, der Malerei und Grafik studiert hat, ist schon in den 60er Jahren bei Fluxus-Aktionen von Nam June Paik in der Galerie „Parnass“ dabei. Und mit Jazz im Theater macht der Saxophonist Wolfgang Schmidtke bei verschiedenen Inszenierungen im Wuppertaler Schauspielhaus bis heute spannende Erfahrungen.

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Raus aus dem Keller – die Subkultur etabliert sich

Mitte der 70er Jahre ist die Sturm-und-Drang-Phase des Free Jazz endgültig vorbei. Der Jazz hat sich im Musikleben etabliert und in die klassischen Musentempel der europäischen Hochkultur Einzug gehalten. Die Städte schmücken sich mit ihrer Jazz-Szene, erste Fördergelder fließen. Doch mit einem Bein bleibt der Jazz in der Subkultur, der er entstammt. Mit Jazz-Rock und Fusion entwickeln sich neue, populäre Stilrichtungen, die ein junges Publikum erreichen. Die herausragenden Vertreter der Wuppertaler Jazz-Szene touren durch die Welt und sind in Wuppertal nur selten zu hören. Aber die Gründung des Kommunikationszentrums „die börse“ und der Jazz AGe sowie eine neu entstehende Kneipenkultur sorgen für einen nie dagewesenen Boom der Jazz-Aktivitäten in Wuppertal.

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Music Is An Open Sky

In den 90er Jahren bringt die Vielschichtigkeit der Jazzmusik zunehmend Verunsicherung. Die Ränder fransen aus, die Begriffe verschwimmen. Was ist überhaupt Jazz? Gibt es noch dieses gemeinsame Dach, unter dem sich Traditionspflege und die experimentelle Suche nach neuen Klängen vereinen lassen? Musiker und Publikum kümmern sich allerdings wenig um solche Fragen. Immer wieder entstehen neue Nischen, Veranstaltungsorte und Festivals. Die „Talklänge“ und „Interkulturelle Begegnungen“ fördern ein neues Verständnis von Weltmusik. Wolfgang Schmidtke ruft mit „Die 3. Art“ ein Festival ins Leben, dass die Verweigerung einer stilistischen Zuordnung zum Programm macht. Peter Kowalds „Ort“-Projekt macht Wuppertal 1994 erneut zu einem Zentrum der frei improvisierten Musik. Sein Tod im Jahr 2002 löst einen Schock aus, aber mit der erfolgreichen Gründung der „Kowald-Gesellschaft“ gelingt es, den Geist und das Atelier Kowalds mit vielen Aktivitäten am Leben zu erhalten. Und mit dem „Wuppertaler Jazzmeeting“ hat sich eine Veranstaltung etabliert, die zumindest an einem Tag im Jahr die zersplitterte Szene zusammenführt.

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Anhang

Chronologie, Diskographie, Literaturhinweise,Personenregister